"Putin hat Protest verdient"

Der Russlandkoordinator der Bundesregierung GERNOT ERLER über Putins Ziele, die Rolle des Westens und die Zukunft der Ukraine


Herr Erler, wie viel Hoffnung haben Sie, dass der aktuelle „Genfer Friedensfahrplan“ die Situation in der Ukraine tatsächlich befriedet?

Es war ein großer Erfolg, übrigens auch für die deutsche Außenpolitik, dass überhaupt direkte Gespräche zwischen dem ukrainischen und dem russischen Außenminister stattfanden, assistiert von Lady Ashton für die EU und John Kerry für die Vereinigten Staaten.Bisher hatte die russische Seite ja jeden Kontakt mit der als illegal angesehenen Interimsregierung in Kiew abgelehnt. Die Kontaktsperre wurde jetzt durchbrochen. Und die Genfer Erklärung selbst ist ein Erfolg, der so nicht erwartet wurde: mit der Entwaffnung nicht-staatlicher Gruppierungen, der Räumung besetzter Gebäude und Plätze, der weitgehenden Amnestie für Demonstranten und auch mit der Überwachung des Prozesses durch die OSZE.

Stellt sich die Frage,wie diese Punkte durchgesetztwerden können...

Der schwierigste Part liegt hier eindeutig bei der Ukraine. Aber es ist sehr hilfreich, dass sich auch die russische Seite zu diesen Zielen bekannt hat. Das zerstört sicherlich auch die Hoffnungen mancher Separatisten in der Ostukraine, die versucht haben, nach dem Muster der Krimvorzugehen – dem ist jetzt ein Riegelvorgeschoben worden. Das heißt leider noch nicht, dass die Umsetzung der vier Hauptpunkte leichter wird, es gibt ja schon erste Meldungen, dass Demonstranten den Aufforderungen nicht folgen wollen. Trotz allem glaube ich, dass Genf über die Erwartungen hinaus Wege zu einer politischen Lösung geöffnet hat – zumal die Beteiligten weiter in Kontakt bleiben wollen.

Ihre Hoffnung ist also gewachsen, dass es nicht zu einem Bürgerkrieg oder zu bewaffneten Grenzkonflikten zwischen Russland und der Ukraine kommt?

Ich bin hinreichend realistisch, nicht von einer Entwarnung zu sprechen. Aber ich kann mir schlecht vorstellen, dass die zusammengekommenen Mächte ein Misslingen ihrer Vorschläge einfach hinnehmen würden. Da sehe ich auch den russischen Präsidenten in der Pflicht: Die ganze Welt weiß, wie stark der russische Einfluss auf die prorussischen Kräfte in der Ostukraine ist.

„Liebesgrüße nach Moskau“ schrieb „SpiegelOnline“ noch Anfang des Jahres, als Sie Russlandkoordinator der Bundesregierungwurden. Sie standen bisher für eine enge Partnerschaftmit Russland. Haben Sie sich in Putin getäuscht?

Ich glaube, wir sind alle in böser Weise überrascht worden von der Entwicklung der letzten Monate. Jeder weiß, welche Verantwortung die russische Führung hierfür hat – gerade, was die Zustände in der Ostukraine und die Annexion der Krim angeht. Trotzdem halte ich es weiter für nötig, analytisch an die russische Position heranzugehen. Es ist leichter, politisch aktiv zu sein, wenn man sich die Motive, Befindlichkeiten und Ziele der anderen Seite genauer anguckt.

Welche Ziele verfolgt denn Putin?

Ich denke, zwei Motive stehen bei ihm im Vordergrund.Zum einen ist die russische Führung immer noch geschockt davon, dass im benachbarten Brudervolk unter dem Stichwort Maidan ein erfolgreicher Regimewechsel von unten stattgefunden hat. Auch in Russland selbst hat es ja schon Massendemonstrationen gegen die Führung gegeben. Der russische Präsident will deshalb ein Scheitern des Maidan herbeiführen. Als Beleg dafür möchte ich anführen, dass Russland auf der Krim und in der Ostukraine mit den gleichen Mitteln zurückschlägt, die auf dem Maidan erfolgreich waren: Demonstrationen, Besetzung von Gebäuden, bewaffnete Milizen, Wechsel der Regierung.

Russland kopiert in der Ukraine ein Vorgehen, mit dem die Maidan- Bewegung auf der anderen Seite erfolgreich war?

Ja, Russland setzt im Osten exakt die gleichen Mittel ein – nach dem Motto: Was ihr könnt, können wir schon lange.

Und Putins zweites Motiv?

Putin hat ehrgeizige Ziele für eine sogenannte Eurasische Union, die schon 2015 starten soll. Vorläufer hierfür ist die bisherige Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißrussland. Putin möchte dafür sorgen, dass die Ukraine offen bleibt für eine Mitwirkung in einer zunächst wirtschaftlichen, später auch politischen Eurasischen Union. Mein Beleg dafür sind die russischen Forderungen für die Zukunft der Ukraine: vor allem Bündnisneutralität, also kein Nato-Beitritt, dann eine föderale Struktur mit weitgehenden Selbstbestimmungsrechten der Regionen und die Einführung von Russisch als zweiter Amtssprache im ganzen Land.

Die Nation zu betonen, mit geopolitischen Einflusssphären zu argumentieren, staatliche Grenzen zu verschieben – stammt die aktuelle russische Politik aus dem 19. Jahrhundert?

Ein Präsident wie Wladimir Putin, der die Auflösung der Sowjetunion als die größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat, muss fast automatisch in der Perspektive denken, den postsowjetischen Raum unter der Führung Russlands neu zu organisieren. Das kann aber theoretisch auch eine Chance sein,wenn dabei die Erfahrungen der EU genutzt werden: dass nämlich gerade die stärkste Macht sich auch unterordnet und Souveränitätsrechte abgibt, statt die Führungsrolle zu beanspruchen.

Sie sprechen von Deutschland?

Deutschlands Rolle in der EU und auch in der Nato wäre ein Beispiel hierfür. Momentan sind wir in der eurasischen Region sicher weit von einer solchen Option entfernt, Trotzdem ist eine stärkere Zusammenarbeit und die Schaffung von gemeinsamen Wirtschaftsräumen nicht per se eine Provokation, sondern kann, wie gesagt, auch eine Chance sein – wenn eben an der Spitze eine Organisation und nicht ein Land steht. Schon diese Entwicklung macht es sinnvoll, weiter mit der russischen Führung im Gespräch zu bleiben.

Bei den Gesprächen in Genf soll die Krim keine große Rolle gespielt haben. Akzeptieren USA und EU die Annexion inzwischen einfach im Interesse einer Verständigung?

In keinerWeise. Es gibt keine Gespräche mit Russland, in denen nicht wiederholt wird, dass man die Annexion der Krim für völkerrechts- und vertragswidrig hält und nicht anerkennen wird. Aber mit Blick auf die dramatische Entwicklung, die wir im Augenblick in der Ostukraine erleben, macht es nicht viel Sinn, das Thema Krim in den Vordergrund zu stellen.

Sehen Sie auch beim Westen eine Verantwortung für die Entstehung des Konflikts?

Was der Westen im Augenblick macht, nämlich nach Formaten für eine politische Lösung zu suchen, kann man nur unterstützen – Deutschland hat ja schon länger eine Kontaktgruppe angeregt, wie sie sich jetzt in Genf gebildet hat. Wenn man aber in die jüngere Vergangenheit zurückgeht, kann man feststellen, dass die EU zu spät die heraufziehende Konkurrenzsituation zwischen ihrer Politik der Assoziationsabkommen einerseits und den russischen Plänen für eine Eurasische Union andererseits bemerkt hat. So hat sie die Ukraine letztlich vor eine Entweder-oder- Situationgestellt.Die EU ist nun dabei, hier nach Korrekturen zu suchen, die Zwischenpositionen ermöglichen. Dafür müsste es eigentlich Chancen geben – nicht nur die deutsche Wirtschaft, auch Putin wünscht sich ja einen gesamteuropäischen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok...

Immer wieder hört man auch die These, bei der Ausdehnung der Nato seien Zusagen an Russland nicht eingehalten worden. Stimmt das?

Das stimmt eindeutig. Im Zusammenhang mit der deutschen Einheit und den Zweiplus- vier-Gesprächen haben viele Beteiligte berichtet, dass es Zusagen gegeben hat. Man kann auch in Reden aus der Zeit Bestätigungen dafür finden. Nur ist das natürlich keine Legitimation dafür, im 21. Jahrhundert entgegen vertraglichen Zusicherungen einfach Grenzen zu verändern und dabei Gewaltmittel einzusetzen.

Haben Sie eigentlich Kontakte zu Menschen in der Ukraine? Wie sieht die Bevölkerung dort den Konflikt und was erwartet sie?

Ich habe verschiedene Kontakte vor allem in die Westukraine, natürlich auch zur Freiburger Partnerstadt Lviv. Die Wahrnehmungen im Land sind sehr unterschiedlich – das hängt davon ab, wo die Leute wohnen, aber auch von ihrer politischen Verortung. Die Wünsche, die an uns herangetragen werden, reichen von möglichst vielen Sanktionen gegen Russland oder sogar der Möglichkeit militärischer Unterstützung bis zu politischen Lösungen. Die Breite der Vorschläge und Wünsche ist staunenswert.

In der deutschen Debatte hört man zurzeit nicht wenige Stimmen, die die russische Politik verteidigen – im Internet finden sich reichlich entsprechende Kommentare, gerne verbunden mit Spott und Hohn für USA, EU und deutsche Regierung. Wie erklären Sie sich diese Stimmung in einem Teil der Bevölkerung?

Ich nehme das genau so wahr wie Sie, und wenn ich meine Mails angucke, bestätigt sich das auch. Ich glaube, dass das zum Teil eine Reaktion auf die öffentliche Behandlung der Politik Russlands ist, die zum Teil sehr kritisch ausfiel, auch während der Olympischen Spiele in Sotschi. Mir fällt auf, dass viele Leute sich zum Beispiel in Sachen Krim mit der Geschichte beschäftigen und sagen, die Motive Russlands seien nachvollziehbar. Dem würde ich aber immer entgegnen: Selbst wenn diese Wahrnehmung stimmt – das Vorgehen der russischen Führung, das eindeutig gültige Verträge und internationales Recht bricht, ist nicht akzeptabel. Und es ist auch gefährlich,weil es Vertrauen zerstört. Wer zwei Mal, 1994 und 1997, die Unversehrtheit und territoriale Integrität der Ukraine vertraglich garantiert hat und sich dann ohne jede Erklärung darüber hinwegsetzt, nur weil die Gelegenheit dazu da ist, der hat meines Erachtens auch Kritik und Protestverdient.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE
THOMAS GOEBEL


ZUR PERSON
Seit Jahrzehnten befasst sich der Freiburger SPD-Bundestagsabgeordnete Gernot Erler (69) mit Russland und Osteuropa. Er studierte Geschichte, Slawische Sprachen und Politik. Er war stellvertretender Fraktionsvorsitzender für Außen- und Sicherheitspolitik und von 2005 bis 2009 Staatsminister im Auswärtigen Amt. Erler ist Koordinator der Bundesregierung „für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft“.


Der Sonntag, 20. April 2014