Sie sind alt und brauchen das Geld

Immer mehr Rentner jobben, weil ihre Rente nicht reicht

Von Thomas Goebel

Irgendwann gegen Ende des Gesprächs sagt Sigrun Scheil (Name geändert) diesen Satz, der anders klingt als die Sätze zuvor: "Vielleicht würde ich auch arbeiten, wenn ich das Geld gar nicht bräuchte." Sigrun Scheil wird demnächst 70; zwei Mal in der Woche putzt sie das Haus einer Freiburger Familie, immer morgens für drei Stunden, trotz Rheuma in den Händen und obwohl sie frühes Aufstehen hasst. Arbeiten, das bedeute doch auch, mal rauszukommen und gebraucht zu werden, sagt sie: "Wenn Sie fit sind und kein Geld haben - was wollen Sie denn dann machen? 24 Stunden in der Bude hocken? Oder in die Stadt gehen und sich die Nase an den Schaufenstern platt drücken, obwohl sie sich nichts leisten können?" Und schon ist es wieder da, das Thema, das ihren Alltag prägt: Geld - und seine Abwesenheit.

Sigrun Scheil ist eine schmale, aber resolute Person. Ihre Wohnung ist sorgsam eingerichtet: eine Schrankwand aus hellem Holz, ein moderner Fernseher, ein großes Sofa in der Mitte des Raums. 52 Quadratmeter in einer Caritas-Seniorenwohnanlage, für 440 Euro im Monat. Das ist günstig - und doch weit mehr als die Hälfte der 771,66 Euro, die sie jeden Monat an Rente bekommt. Neulich hat sie ausgerechnet, was ihr pro Tag übrig bleibt, wenn sie alle Festkosten abzieht, und ist auf 3,77 Euro gekommen.

Scheil ist gelernte Frisörin, das sei schon mit vier Jahren ihr Wunsch gewesen. Sie hat lange in dem Beruf gearbeitet. "Aber es weiß ja alle Welt, dass man da nichts verdient", sagt sie. Mit 45 Jahren wechselte sie deshalb schließlich als Zimmermädchen in ein Hotel: "Da hatte ich auf einen Schlag 1000 Mark mehr im Monat." Doch schon nach sieben Monaten machte ihr Rücken nicht mehr mit: "Ich war halt nicht mehr dreißig". Sie musste im Hotel aufhören und begann zu putzen. Als junge Frau war sie zwei Mal verheiratet; finanzielle Ansprüche aus ihren beiden Ehen hat sie nicht.

"Deshalb arbeite ich, so lange ich kann", sagt Scheil. Von dem Geld hat sie sich neulich ein modernes Bett gekauft. "Irgendwann brauche ich das - ich hoffe ja, dass ich noch ein paar Jährchen habe." Und ein bisschen etwas sparen will sie auch, für später, wenn es mit dem Putzen mal nicht mehr geht, "die schwarzen Zeiten", wie sie sagt. 3,77 - diese Zahl hat es ihr angetan, sie nennt sie häufig im Gespräch: "Was wollen Sie damit schon machen!"

Die Putzstelle hat Scheil vor fünf Jahren über eine Annonce gefunden. Wenn sie nicht krank wird oder die Familie, bei der sie putzt, in Urlaub ist, verdient sie 240 Euro im Monat dazu. "Angemeldet!", sagt sie. Würde sie nicht arbeiten, bekäme sie einen kleinen Zuschuss vom Sozialamt: Das stockt besonders niedrige Renten auf, bis die Höhe des "Regelsatzes" von 359 Euro für Alleinstehende plus die Kosten für Wohnung und Heizung "in angemessenem Umfang" erreicht sind. Ohne Job liegt Scheils Rente knapp darunter, mit Zuverdienst bereits deutlich darüber.

Wie viele Rentnerinnen und Rentner jobben, ist nicht leicht zu ermitteln; die Dunkelziffer ist wohl hoch. Klar scheint nur, dass ihre Zahl steigt. Die Gewerkschaften Verdi und Nahrung-Genuss-Gaststätten sprechen von einer "alarmierenden Entwicklung": So habe die Zahl der Rentner mit offiziellen Mini-Jobs in Freiburg von 2003 bis 2008 um rund 37 Prozent zugenommen - auf 2075. Ähnlich sieht es im Kreis Lörrach aus: Hier stieg die Zahl um 30 Prozent auf 2221 minijobbende Rentner.

"Insbesondere Frauen haben oft ein großes Problem", sagt Reiner Geis, Verdi-Geschäftsführer in Südbaden. Häufig waren sie nur mit Unterbrechungen berufstätig oder ihre Arbeit wurde schlecht bezahlt: Zwei Gründe für eine niedrige Rente. Perspektivisch werde die Zahl armer Rentner noch weiter zunehmen, vermutet Geis: Wegen der Massenarbeitslosigkeit seit Mitte der 70er Jahre und der Ausweitung von prekären und schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen.

Geis erwartet gar eine "neue Altersarmut" und fordert gesetzliche Mindestlöhne als Vorbeugung. Auch der Deutsche Caritasverband ist sich sicher: "Es wird aufgrund der Berufsbiografien in absehbarer Zeit eine viel größere Altersarmut geben", so Franz Fink, Referatsleiter Altenhilfe. Wie stark die Zahl der jobbenden Rentner tatsächlich bereits zugenommen hat, kann Ursula Konfitin vom Seniorenbüro der Stadt Freiburg nicht sicher sagen, auch ihr fehlen genauere Zahlen. "Das Thema taucht aber immer mal wieder in unseren Beratungsgesprächen auf", bestätigt sie: "Dann fragen uns Rentner, ob wir einen Job vermitteln könnten, sie seien noch fit - und das Geld knapp." Das Seniorenbüro empfiehlt dann oft die Nachbarschaftshilfe der Wohlfahrtsverbände.

Mechthild Bäcker (Name geändert), 69 Jahre alt, hat einen solchen Job: Sechs Stunden pro Woche besucht sie für die Evangelische Sozialstation in Freiburg alte Menschen, hilft ihnen beim Einkaufen, Kochen und Aufräumen oder geht mit ihnen spazieren. Acht Euro bekommt sie in der Stunde; pro Monat verdient sie so rund 200 Euro zu ihrer Rente dazu. Mechthild Bäcker hat über 40 Jahre als Buchhändlerin gearbeitet. "Ich lebe nicht unter der Armutsgrenze", sagt die Frau mit den halblangen weißen Haaren. Und doch ist das Geld auch bei ihr knapp: Die Rente ist niedrig, dazu kommt ein Kredit, der abbezahlt werden muss. "Eine alte Geschichte", sagt Bäcker nur.

Über Zahlen redet sie nicht gerne - aber über ihre Arbeit: "Nichts gegen meinen geliebten Buchhandel", sagt sie, "aber es ist eine schöne, neue Erfahrung mit den alten Menschen." Sie alle sind über 80 Jahre alt; eine Dame, die sie regelmäßig besucht, ist dement. "Da muss man dann auch darüber nachdenken, wie man selbst wird im Alter", sagt sie.

Auf die Nachbarschaftshilfe ist Mechthild Bäcker durch eine Bekannte gestoßen, als sie vor fünf Jahren nach einem Nebenjob gesucht hat. Die sechs Stunden pro Woche reichen ihr. "Ich werde nächstes Jahr 70, ich muss nicht mehr andauernd arbeiten", sagt sie. Die zusätzlichen 200 Euro im Monat helfen ihrem Mann und ihr, dass das Geld nicht gar so knapp ist. Ein Zeitungsabo, erzählt sie, hat sie sich früher zum Beispiel nicht geleistet.

Sigrun Scheil geht alle paar Wochen mit Freunden zum Italiener nebenan: Ein Schnitzel und ein Viertel Rotwein sind drin im Budget, zumindest so lange sie arbeitet. Am meisten spart sie bei der Kleidung: "Das ist der größte Posten. Eigentlich brauche ich nicht so viel - wenn nur die Verführung nicht so groß wäre…" Gerade sei bei ihrem Wintermantel der Reißverschluss kaputt gegangen; einen neuen einnähen zu lassen koste wegen der komplizierten Naht 25 Euro; jetzt will sie erstmal im Schlussverkauf schauen, ob sie irgendwo etwas Billigeres findet. Ihre Rente, sagt Scheil, hat sie anders vorgestellt: "Ich hatte mal so Träume: Endlich jeden Tag ausschlafen…" Das Putzen sei viel anstrengender als früher: "Aber wie ich das schaffe, fragt mich ja kein Mensch. Ich muss, sonst hab' ich nichts".

Trotzdem ist es nicht so sehr die Arbeit, die ihrer Stimme empört klingen lässt, wenn sie von ihrem Alltag erzählt. Darauf angewiesen zu sein ist es, was sie beschäftigt - und die Angst, irgendwann mit noch weniger auskommen zu müssen. "Aber vielleicht habe ich ja auch unverschämtes Glück", sagt sie. "Und ich kann bis zum letzten Atemzug arbeiten."


Der Sonntag, 3. Januar 2010