Wünsch Dir was

Jedes Jahr zu Weihnachten wünschen wir uns Geschenke, ein frohes Fest, eine glückliche Familie und Frieden für die ganze Welt. Warum eigentlich? Ein Gespräch
mit der Zürcher Psychoanalytikerin Brigitte Boothe


Interview: Thomas Goebel

alberta: Frau Boothe, warum wünschen wir uns überhaupt etwas?

Brigitte Boothe: Kinder schreiben vor Weihnachten einen Wunschzettel, weil sie hoffen, dass das Christkind oder die Eltern ihnen den Gefallen tun und tatsächlich
das Gewünschte bringen. Das gehört zu den Ritualen der Weihnachtszeit. An Weihnachten ist es eben wie im Märchen: Man muss nur wünschen. Und liebevolle und schenkfreudige Wesen sorgen dann dafür, dass man bekommt, was man wünscht. Ansonsten aber ist es eher so: Wir wünschen uns dann etwas, wenn wir keine Chance haben, im Sinne unseres Wollens in der Welt zum Erfolg zu kommen. Wünschen ist ein Ersatz, der unser Befinden verbessert, der aber nicht zu dem Ziel führt, dass in der Welt etwas geschieht. 

Das klingt negativ. 

Nein, gar nicht. Die psychoanalytische Idee des Wünschens ist, dass das Neugeborene, nachdem es auf die Welt gekommen ist, länger als andere Säugetiere in einem abhängigen Zustand verbleibt, in dem der eigene Aktionsradius sehr begrenzt ist. Das bedeutet, dass das Kind Wartezeiten überstehen muss, die nicht der eigenen Regulierung von Spannungen wie Hunger, Durst und Wärmebedürfnis entsprechen. Diese Spannung kann das Kind aber dadurch regulieren, dass es Erfahrungen, in denen etwas Gutes geschehen ist – etwa eine angenehme Fütterungssituation – mental in der Erinnerung aufruft. Das muss nicht zwangsläufig eine visuelle Szene sein. Das Kind ist ja noch klein, seine Erinnerungsfähigkeit ist sehr auf die Sinne zugeschnitten.
Dieses Aufrufen von etwas Angenehmem in der Fantasie entspannt vorübergehend – wenn es nicht zu lange dauert. Irgendwann muss eben doch gegessen, getrunken und Wärme hergestellt werden.

Ist Weihnachten als das Wunsch-Fest schlechthin auch eine Art Ersatz? Ein Versuch, mitten im Winter unser Befinden zu verbessern?

Genau. Ein Paradieszustand wird festlich inszeniert – auch wenn es dieses Paradies nur in der festlichen Inszenierung gibt. Für die Christen ist ja auch eine Wartezeit zu überbrücken: Es möge jetzt schon das Paradies sein, aber noch ist es nicht so weit. Wobei das Christentum als Glaube sicherlich über das alltägliche Wünschen hinausgeht: Da wird der wunscherfüllende Zustand – das Paradies – dann zur Verheißung oder Erlösung.

Warum verbinden wir Wünsche so gerne mit Ritualen – an Weihnachten, bei Geburtstagen,
bei Abschieden?

Das Festliche, die Rituale machen den Spielcharakter der Sache deutlich. Es gibt, könnte man sagen, zwei verschiedene Geistestätigkeiten. Freud hat sie Lust- und Realitätsprinzip genannt: Ein Prinzip, in dem ich meine mentalen Fähigkeiten einsetze, damit es mir besser geht – das wäre die Welt in der Perspektive meiner persönlichen Wünsche. Und das andere ist das Handeln: Da muss ich mich selber zurückstellen, dort geht es darum, dass ich in der Welt etwas ausrichte, dafür muss ich nüchtern sein, ich muss untersuchen, fragen, vermuten, verwerfen – alles sehr
anstrengend, aber irgendwann komme ich zu einer Art Erfolg oder Misserfolg. Wir unterscheiden sehr klar zwischen dem Handeln, das auf Erfolg drängt, und dem Wünschen, das auf schöne Vorstellungen drängt – oder auf böse. Denn auch der Fluch ist ein Wunsch, nur eben einer, der verwünscht. 

Dient ein Fluch denn ebenso wie ein Wunsch der Verbesserung des eigenen Wohlbefindens?

Denken Sie nur daran, wieviel Spaß uns die Schadenfreude macht: Ich muss nichts tun, und dem anderen geht es trotzdem schlecht! Man muss natürlich vorsichtig sein, wie man mit Schadenfreude umgeht: dem Betroffenen sollte man sie jedenfalls nicht allzu direkt zeigen, wenn man die Beziehung zu ihm aufrechterhalten will… Das Interessante an bösen Wünschen ist, dass man sie vor sich legitimieren muss: Man kann sich nicht einfach so etwas Böses wünschen. Meistens traut man sich erst dann, diese Wünsche wahr zu nehmen, wenn man glaubt, im Recht zu sein – zum Beispiel wenn man sich rächen will. Dann ist es leicht, sich einen bösen Wunsch lebhaft vorzustellen. Das aber zeigt, dass wir die bösen Wünsche auch zur Selbstachtung brauchen: Wenn man anderen etwas Bösen wünschen kann, dann bedeutet das – illusorisch natürlich, aber trotzdem – die Stärkung eines Autonomiegefühls.

Ob gut oder böse, Wünsche haben oft eine Verbindung zum Magischen: Die Sternschnuppe
soll uns einen Wunsch erfüllen, die Fee im Märchen gleich drei…

Das ist kompliziert. Alle Religionen haben wahrscheinlich magische Praktiken – ob es ihnen passt oder nicht. Und das haben wir auch im Alltag. Wie bei Ihrem Beispiel, der Sternschnuppe – eigentlich ein schönes Naturphänomen. Aber in der Magie denkt man: Okay, vielleicht hilft es ja wirklich, mir etwas zu wünschen, wenn ich eine Sternschnuppe sehe und den Wunsch für mich behalte, damit er in Erfüllung geht. Doch das ist der Inbegriff einer Illusion.

Warum?

Weil wir zwar in der Vorstellung wirklich unser Befinden ändern können – aber in der Magie eben noch einen Schritt weiter gehen und denken: Die Sternschnuppe ist mir wirklich zugeneigt. Und dafür gibt es keine vernünftigen Gründe. Aber – wir haben auch die folgende Befunde: Der Arzt sagt, "nimm die blaue Pille, dann geht’s dir besser". Der Arzt ist nett, also nehme ich die Pille und sie hilft wirklich – obwohl sie ein Placebo ist. Oder ich verfluche jemanden – und die Person erlebt tatsächlich später Unglück, weil sie unter dem Eindruck des Fluches steht.

Das heißt?

Das bedeutet, dass wir nicht darauf verzichten können, dass Menschen uns wohl gesonnen sind. Wir können auch schlecht darauf verzichten uns vorzustellen, dass die Welt uns wohl gesonnen ist. "Ich wünsche Dir viel Erfolg für Deine Prüfung", "Hals- und Beinbruch", "Lebe wohl" – das sind alles Wunschäußerungen, ich gebe dem anderen meinen Wunsch mit auf den Weg. Ich kann natürlich nichts Reales bewirken, aber ich kann dem Anderen vermitteln: Ich bin auf Deiner Seite. Ohne solche Äußerungen von Wohlgesonnenheit kommen wir ganz schlecht aus.

Wünschen hilft wirklich.

Das ist genau die Quintessenz. Dass man damit, genauso wie mit Weihnachten, auch reine Konvention treiben kann, die einem vielleicht sogar entsetzlich auf die Nerven geht, ist natürlich völlig unbenommen.


Zur Person
Brigitte Boothe ist seit 1990 Professorin für Klinische Psychologie, Kommunikation, Erzählanalyse und Psychotherapie an der Universität Zürich. Sie hat Philosophie, Germanistik und Romanistik studiert und über Wittgensteins Konzepte der Beschreibung und der Lebensform promoviert. Boothe ist Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin.
Die Psychologie des Wünschens gehört zu ihren Forschungsschwerpunkten.

Lesen
"Über das Wünschen. Ein seelisches und poetisches Phänomen wird erkundet." Hrsg. v. Brigitte Boothe, Res Wepfer und Agnes von Wyl, Göttingen 1998, 252 S.
Der Band ist seit kurzem vergriffen, steht aber zum kostenlosen Download auf den Netzseiten der Uni Zürich.

alberta - Magazin für Studierende der Freiburger Hochschulen, Dezember 2008